Woche 2: Mit den Liebsten

Fastenmail Woche 2: Mit den Liebsten
Anna Tiessen

Hör ich da nicht meinen Liebsten? Ja, da kommt er auch schon! Er springt über die Berge, hüpft herbei über die Hügel. Mein Liebster gleicht der Gazelle oder einem jungen Hirsch.
Schon steht er an unserer Hauswand. Er schaut durch das Fenster herein, späht durch das Fenstergitter. Mein Liebster redet mir zu: „Schnell, meine Freundin, meine Schöne, komm doch heraus! Denn der Winter ist vorüber, der Regen vorbei, er hat sich verzogen. Blumen sprießen schon aus dem Boden, die Zeit des Frühlings ist gekommen
(Hohelied 2,8‒12 Basisbibel)

Liebe Zusammengehörige,

haben Sie bereits Frühlingsgefühle? Die Temperaturen in Deutschland in der letzten Woche haben sehr dazu eingeladen, den Winter zu vergessen, der draußen eigentlich noch herrscht. Einige Vögel singen bereits in der Dämmerung, bei uns vor dem Haus ist ein Café, da sitzen die Leute bereits bis in den späten Abend draußen. Wie reagieren Sie auf diesen frühen Frühlingsausbruch? Ich hoffe, nicht mit Kopfschmerzen und zu frühem Heuschnupfen!

Frühling macht häufig nicht nur die Vögel und die Haselsträucher agil. Gartenmenschen wollen loslegen, dann schauen sie auf ihre durchweichten Böden und suchen sich schnell andere Betätigungsmöglichkeiten. Der Frühjahrsputz ist eine Alternative. Gehören Sie zu denen, die in dieser Zeit gründlich aufräumen und putzen bei sich zu Hause? Im Frühling können wir Menschen recht leicht erkennen, dass wir ebenfalls Tiere sind. Wir reagieren wie die anderen Tiere darauf, dass es wärmer wird und dass das Tageslicht zunimmt. Wenn die ersten Blumen blühen und es beginnt zu keimen und zu sprießen, steigen bei uns Tatendrang, Lust und Laune.

Womit wir beim Bibeltext für diese Woche wären. Er stammt aus dem Hohelied. Dieses Wort ist im Grunde genommen eine Abkürzung, denn Hohelied bedeutet so viel wie Loblied auf etwas. Das Buch, aus dem unser Bibeltext für diese Woche stammt, sollte man demnach „Das Hohelied auf die Liebe“ nennen. Warum es diese Sammlung verschiedener, oft erotischer Liebesgedichte in die Bibel geschafft hat, ist vermutlich der Tatsache zu verdanken, dass als Verfasser der weise König Salomo angegeben wird. Vollständig kann man darum vom „Hohelied Salomos auf die Liebe“ sprechen.

Trotzdem war es für viele Menschen über die Jahrhunderte hinweg vollkommen rätselhaft, was das Hohelied in der Bibel zu suchen hat. Ein Buch voller Gedichte über die Liebe und die Leidenschaft? Zwei offensichtlich junge Leute, anscheinend nicht einmal verheiratet, schmachten sich an und erzählen, wie sehr sie einander begehren? Die Bibel erzählt doch die Liebesgeschichte Gottes mit der Menschheit! Für viele Bibelausleger war darum klar: Es kann unmöglich gemeint sein, was hier steht! Es muss in dieser Bildsprache etwas verborgen sein. Eine populäre Auslegung ist, dass es hier eigentlich um Jesus und seine Kirche geht. Schließlich hat Jesus auch von Bräuten geredet, die auf den Bräutigam warten.

Meiner Ansicht nach hat das Hohelied deswegen seinen Platz in der Bibel, weil die Bibel nichts auslässt. Alles, was das Leben und das Zusammenleben ausmacht, kommt irgendwo auch in der Bibel vor und so auch die Frühlingsgefühle zweier junger Liebender. Darum können wir den Text für diese Woche auch gerne sehr wörtlich nehmen: Sie spitzt die Ohren auf jeden Laut, der ihr verrät, dass ihr Freund endlich zu ihr kommt. Dann sieht sie ihn, wie er zu ihr rennt. Wie bei Gazellen werden seine Schritte immer größer, werden zu Sprüngen, bis er da ist. Er schlüpft aber nicht zu ihr ins Haus, sondern er lockt sie heraus, dahin, wo das Leben ist. Das nächste Gedicht spielt dann in einem Weinberg.

Ich bin ein großer Freund des Hohelieds der Liebe. Ich lasse mich gern mitreißen von der Kraft der Liebe, wie sie in diesem Buch beschrieben wird. Außerdem liebe ich die Tatsache, dass zu unserer Tradition gehört, dass wir Liebesgedichte schreiben. Zusätzlich zum Hüpfen und Seufzen und Springen und Sehnen nutzen wir Menschen unsere Sprache, um unsere Liebe auszudrücken. Und es ist wundervoll zu spüren, wie diese Worte wirken können.

Um es deutlich zu sagen: Ich rede hier nicht von den wirksamsten Anmachsprüchen. Mir geht es darum, dass wir die Fähigkeit haben, unsere tief empfundene Zuneigung in Worte zu fassen. Das geht auch weit über die Liebeserklärung zur Partnerin oder zum Partner hinaus. Ich kann auch einem Freund oder einer Kollegin sagen, was er mir bedeutet. Selbst meiner Lieblingsverkäuferin, zu der ich immer gehe, weil sie so freundlich ist, egal wie voll der Laden ist, kann ich sagen, wie gut mir das tut. Oder meinem Bekannten, den ich viel zu selten sehe, aber mit dem ich mich immer wieder auf Anhieb verstehe.

In Zeiten, in denen wir uns schnell empören, in denen skandiert wird und Hass offen herausgebrüllt wird, sind Liebesbekundungen umso wichtiger. Das Problem ist häufig, dass wir die Lieblingsmenschen um uns herum allzu oft als selbstverständlich wahrnehmen. Sie sind es nicht. Sie sehnen sich wie wir nach guten Worten, die ihnen deutlich machen, dass sie wahrgenommen, gemocht, geliebt werden.

Darum lautet die Wochenaufgabe für diesmal: Machen Sie anderen eine „Liebeserklärung“! Die Anführungsstriche sollen Ihnen deutlich machen, dass Sie nicht ihrer Lieblingsverkäuferin einen Heiratsantrag machen sollen. Es geht darum, dass Sie bewusst in Worte fassen und aussprechen, was Sie an anderen schätzen. Zusatzaufgabe: Schreiben Sie ein Liebesgedicht – und zwar ohne eine Künstliche Intelligenz zu nutzen!

Eine Woche voller Liebe wünscht

Ihr Frank Muchlinsky