Woche 6: Mit den Anvertrauten

Woche 6: Mit den Anvertrauten
Alexandra Polina

Nahe bei dem Kreuz von Jesus standen seine Mutter und ihre Schwester. Außerdem waren Maria, die Frau von Klopas, und Maria aus Magdala dabei. Jesus sah seine Mutter und neben ihr den Jünger, den er besonders liebte. Da sagte Jesus zu seiner Mutter: „Frau, sieh: Er ist jetzt dein Sohn.“ Dann sagte er zu dem Jünger: „Sieh: Sie ist jetzt deine Mutter.“ Von dieser Stunde an nahm der Jünger sie bei sich auf.
Johannes 19,25–27, Basisbibel

Liebe Fastenfamilie,

es geht langsam auf die Karwoche zu. Darum gibt es heute bereits einen Ausblick auf das Kreuz. Dort sollte die Sache mit Jesus erledigt werden. Dort sollten alle sehen, wie jämmerlich dieser Wanderprediger aus der Provinz war, wie lächerlich man ihn machen konnte, wie man ihn vor aller Augen vernichten konnte. An diesem Tag gelang das. Die Darstellungen von Jesus am Kreuz, die wir aus unseren Kirchen kennen, können kaum wiedergeben, wie elend Jesus an diesem Tag zugrunde ging. Nichts Würdevolles bleibt einem Menschen, der auf diese Weise hingerichtet wird.

Die vier Evangelien der Bibel berichten von den letzten Momenten im Leben des Jesus von Nazareth sehr unterschiedliche Dinge. Jesus betet, Jesus schreit, Jesus wird ausgelacht, Jesus spricht ein paar letzte Worte. Nur im Johannesevangelium steht das, wovon unser Wochentext erzählt. Nur Johannes berichtet davon, wie Jesus noch kurz vor seinem Tod für seine Mutter sorgt. Er bestimmt, dass der Jünger, den er besonders liebt, sich um sie kümmern soll. Anscheinend ist Marias Mann Josef nicht mehr da, um das zu tun. Allerdings hatte Jesus eigentlich Brüder, die sich ihrer Mutter hätten annehmen können. Warum also diese „Adoption“ unter dem Kreuz?

Jesus hat zum Thema Familie immer eine recht eigene Einstellung gehabt. Das ist auch nicht verwunderlich, wenn man sich die Evangelien anschaut: Sein Vater ist offensichtlich Gott selbst, was er Maria und Josef als Zwölfjähriger auch recht frech deutlich macht. Als er sich in Jerusalem selbstständig gemacht hat und sie ihn endlich im Tempel wiederfinden, sagt er ihnen: „Wieso habt ihr mich gesucht? Habt ihr denn nicht gewusst, dass ich im Haus meines Vaters sein muss?“ (Lukas 2,49) Auf einer Hochzeit, bei der Jesus und auch Maria eingeladen sind, geht der Wein aus und Maria sagt Jesus das. Wieder reagiert er ungehalten: „Was willst du von mir, Frau? Meine Stunde ist noch nicht gekommen.“ (Johannes 2,4). Als Maria sich Sorgen macht, dass ihr Sohn bei dem Andrang von Leuten in seinem Haus nicht genug zu essen bekommt, und auch seine Geschwister sich sicher sind, dass Jesus verrückt geworden ist (Markus 3,20‒21), machen sie sich auf den Weg, um ihn zur Vernunft zu bringen. Als sie ihn rufen lassen, kommt er nicht zu ihnen, sondern spricht zu denen, die im Haus sind: „Wer ist meine Mutter? Und wer sind meine Brüder … Das sind meine Mutter und meine Brüder! Wer tut, was Gott will, der ist mein Bruder, meine Schwester und meine Mutter.“ (Markus 3,33‒35)

Jesus konstruiert Familie neu. Für ihn ist Blut nicht dicker als Wasser, stattdessen gilt: Der Geist macht die Familie. Diese Einstellung kann viel bewirken. Sie ist sicherlich kränkend für die leiblichen Verwandten, denn es relativiert den Zusammenhalt, der durch die Geburt und die lange Zeit, die man miteinander verbringt, entsteht. Es relativiert die Liebe, die Eltern für ihre Kinder empfinden. Und Jesus ist nicht zimperlich in seiner Wortwahl. Er sagt nicht: „Ich empfinde für diese Leute hier wie für meine Mutter.“ Er sagt: „Die sind meine Mutter.“ Andererseits kann diese Neukonstruktion von Familie etwas sehr Befreiendes haben. Wer in einer Familie aufwachsen muss, in der die Eltern ihre Kinder eben nicht lieben, sondern sie quälen, wird Jesus sehr dankbar dafür sein, wenn er sagt: „Familie sind nicht die, die dich aufgezogen haben! Such dir aus, wer deine Familie sein soll!“ Auch wer Kinder hat, die nicht leiblich die „eigenen“ sind, wird diese Einstellung von Jesus willkommen heißen.

Familie wird aus Geist gemacht und zwar aus dem Heiligen Geist. Das bedeutet: Wo wir lieben und füreinander Verantwortung übernehmen, da ist Familie. Sollte es gewesen sein, wie die Evangelisten berichten, dann könnte ich mir vorstellen, dass Maria unter dem Kreuz bei allem Schmerz und bei aller Verzweiflung um ihren Sohn auch ein wenig versöhnt war, weil Jesus ihr in diesem Moment zwei Dinge zu verstehen gibt: Zunächst sagt er: „Du warst immer meine Mutter“, denn sonst könnte er ihr ja nicht einen „neuen“ Sohn zuordnen. Und zweitens hat Maria spätestens ab diesem Moment selbst etwas davon, dass ihr Sohn Jesus Familie konstruiert. Sie wird von seinem liebsten Jünger versorgt werden, kann ab sofort bei ihm wohnen. Sie war immer Familie und ist es nun noch einmal neu.

Heute geht es in unserer Gesellschaft meist anders zu, wenn man die Verantwortung für die Eltern anderen überlassen muss. Häufig geht es um die Frage, wer sich um die Pflege kümmern kann. Und oft müssen das andere tun, weil man selbst es nicht leisten kann. Sich das einzugestehen und daraus die Konsequenzen zu ziehen, kann ausgesprochen schmerzhaft sein. Die Erwartung, dass man sich um die eigenen Eltern kümmert, wenn sie das brauchen, ist schließlich da. Sie kommt aus uns selbst, oft auch von den Eltern und dazu aus der Gesellschaft. Natürlich gibt es Pflegeeinrichtungen, aber die gelten vielen Menschen als Ort, an den man abgeschoben wird. Wer Eltern oder auch andere Familienangehörige in solch einer Einrichtung hat, fühlt sich häufig unzulänglich. Ist die Anzahl der Besuche hoch genug? Kümmere ich mich genügend darum, ob man dort gut umgeht mit meinen Lieben?

Vielleicht ist auch in dieser Hinsicht die Geschichte von heute ein wenig tröstlich: Es kann der Moment kommen, an dem wir Verantwortung an andere abgeben müssen. Und dann kann man es tun wie Jesus: Man kann das Beste aussuchen, das noch möglich ist, und dem Vertrauen schenken. Jesus hat immerhin den Jünger für seine Mutter ausgesucht, den er am liebsten hatte.

 Die Wochenaufgabe: Haben Sie noch eine Mutter, die am Leben ist? Rufen Sie sie an oder gehen Sie zu ihr! Sagen Sie ihr nicht, dass Sie gerade eine Aufgabe erfüllen! Haben Sie eine Mutter, mit der Sie derzeit nicht mehr reden mögen? Dann machen Sie es wie diejenigen, die keine Mutter mehr haben: Schließen Sie für einen Moment die Augen und finden Sie einen Satz, den Sie ihr sagen möchten in diesem Moment! Vielleicht sagen Sie ihn sogar laut. Zusatzaufgabe: Nehmen Sie jemand Neues in Ihre Familie auf – in die Familie, die vom Geist gemacht ist.

Ich wünsche Ihnen alles Liebe!

Ihr Frank Muchlinsky