Die Passionszeit hat wieder begonnen.
Eine scheinbar niemals endende Passion von Menschen, ein Leiden unter den Machtgelüsten anderer, unter Krieg und Gewalt. Frauen und Kinder fliehen, weil sie nicht bleiben können, Männer und Frauen kämpfen und sterben. Wie jetzt in der Ukraine. Wir trauern um die getöteten Zivilisten und Soldaten. Wir weinen um die Zukunft der Menschen, die ihrer Freiheit und ihrer Träume beraubt werden. Deren Hoffnungen mit ihnen sterben.
Und wir fühlen mit. Was da geschieht, geschieht immer wieder in der Welt, in unzähligen grausamen Variationen. Aber jetzt geschieht es in unserer Nähe. In einem Land, das viele von uns kennen, zu dem es auch kirchlich gute Verbindungen gibt. Kiew etwa ist die Partnerstadt von München, wo ich herkomme. Wir fühlen mit - und wir haben Angst. Die Blütenträume des Friedens in Europa sind in den letzten Tagen zerstoben. Nichts ist es mit friedvollem Sitzen unter Feigenbäumen und Weinstöcken.
Völker und mächtigen Nationen machen ihre Schwerter nicht zu Pflugscharen. Schwerter werden gegeneinander erhoben. Es ist Krieg. Was sollen wir tun
Der Schrecken ist groß. Ich denke täglich an das Sonett von Reinhold Schneider, dem Schriftsteller, das er 1936 geschrieben hat. Schneider war erklärter Gegner des Nazi-Regimes, jemand, der den Größenwahn totalitärer Herrscher verabscheute und große Sehnsucht nach Frieden in sich trug. Schneider schrieb:
Allein den Betern kann es noch gelingen,
Das Schwert ob unsren Häuptern aufzuhalten
Und diese Welt den richtenden Gewalten
Durch ein geheiligt Leben abzuringen.
Denn Täter werden nie den Himmel zwingen:
Was sie vereinen, wird sich wieder spalten,
Was sie erneuern, über Nacht veralten,
Und was sie stiften, Not und Elend bringen.
Jetzt ist die Zeit, da sich das Heil verbirgt,
Und Menschenhochmut auf dem Markte feiert,
Indes im Dom die Beter sich verhüllen,
Bis Gott aus unsern Opfern Segen wirkt
Und in den Tiefen, die kein Aug entschleiert,
Die trockenen Brunnen sich mit Leben füllen.
Ein Sonett, das zu Herzen geht. Die, die beten, werden denen gegenübergestellt, die sich mit aller Gewalt durchsetzen wollen. Die Betenden schaffen es zuletzt, das drohende und tatsächliche Verhängnis in Segen zu wandeln. Auch, wenn die Tage den Tätern zu gehören scheinen, die eine Zwangsherrschaft ausüben. Diese Täter bringen Leiden über die Menschen. Und doch! Doch, es wird gelingen, mit viel Geduld eine neue Zeit heraufzuführen, in der die trockenen Brunnen sich mit Leben füllen.
7 Wochen ohne Stillstand - Üben. Leben üben. Das ist das Motto, das wir unserer Fastenaktion gegeben haben. Ich finde es nach wie vor an der Zeit, gerade jetzt. Denn es gibt einen Stillstand des Schreckens. Eine Ohnmacht, auf die wir uns zurückgeworfen fühlen. Ein Stillstand, weil wir denken, was wir immer schon dachten, und nicht mehr vorankommen. Diese Lähmung müssen wir überwinden. So, wie die Politik gerade sich einübt in neue Verhaltensweisen - weil es notwendig ist. Ich persönlich bin froh darüber.
Denn es wird, so beschreibt es die Bibel, Gewalt geübt, Rache, Vergeltung und Willkür. Es wird brutal Macht angewendet, um sich durchzusetzen. Wir können nicht entrüstet zuschauen, wie ein Land überfallen wird – und uns zugleich peinlich berührt, feige und bequem wie Pilatus die Hände in Unschuld waschen, wenn andere gequält, gefoltert und ermordet werden. Tut uns leid. Wir können euch nicht helfen. Vielleicht geben euch andere, was ihr zur Selbstverteidigung braucht.
Es ist Zeit, darüber nachzudenken, wo wir beten und den Tätern in den Arm fallen müssen, damit sie in ihrem selbstherrlichen Wahn nicht Frauen zu besonderen Opfern des Krieges machen, ihre Väter, Brüder, Söhne und Männer töten und den Kindern die Zukunft nehmen. „Stand with Ukraine“ steht auf vielen Transparenten. Haltet zur Ukraine. Das ist so wenig ein bloßes Lippenbekenntnis wie das Gebet. Der russische Dirigent Vladimir Jurowski hat in Berlin ein Konzert mit der ukrainischen Nationalhymne eröffnet.
Viele mutige Menschen in Russland fordern dazu auf, den Krieg gegen ukrainische Schwestern und Brüder zu beenden. Junge russische Soldaten weinen in ihre Handys, weil sie belogen wurden von ihrer Führung und keinen Krieg wollen. Man kann sich nicht raushalten, wenn schreiendes Unrecht geschieht und ein Land wie die Ukraine unterworfen wird, weil es Demokratie will und die innere Größe hat, Vielfalt zuzulassen. Das ist doch die wahre Stärke, die ein Land besitzt: Auf Gewalt zu verzichten und Leben zu ermöglichen.
Wir sollten stolz und dankbar sein, dass wir in einem freiheitlich- demokratischen Rechtsstaat leben. Der muss auch dafür sorgen, dass es zum Ausgleich der verschiedenen Interessen kommt. Dass die Bedürfnisse der Gesamtgesellschaft mit denen der Individuen sorgsam abgeglichen werden. Nicht immer leicht – aber allein die Diskurse darüber, gleich wie heftig, zeigen doch, dass wir in Freiheit leben und uns niemand, wirklich niemand tyrannisiert. Wir ringen nur mit Leidenschaft um gemeinsame Wege. Und beten hoffentlich.
Beten ist Konkretion, ist Handeln. Der Prophet Micha sagt: „Ein jedes Volk wandelt im Namen seines Gottes, aber wir wandeln im Namen des HERRN, unseres Gottes, immer und ewiglich!“ Die Frage ist also, wer und was ist unser Gott? Einer, dem es nur um sich selber geht oder der Gott, der Leben, der Wahrheit will? Wir wissen: Gespräche und Verhandlungen über den Frieden sind ein kostbares Gut. Niemals wird es Besseres geben, als miteinander zu sprechen und gemeinsame Wege zu suchen.
Unser Herrgott bietet Alternativen zu einem brachialen Leben auf. In der Bibel steht an vielen Stellen: Man soll das Gesetz, soll Recht und Gerechtigkeit üben. Ohne Stillstand. Damit ist gemeint: Wir sollen das tun, was allen Menschen zum Besten dient, nicht nur uns selbst. Barmherzigkeit üben, auch mit sich selbst. Gnade, Liebe, Nachsicht … . Da spürt man, dass man in heilsamer Bewegung ist, die eine Menge Geduld erfordert. Ja, wir müssen uns einüben in viel Neues.
Wagnisse eingehen, selbstverständlich Geglaubtes, zur Routine Gewordenes beiseitestellen und neu nachdenken, nach einer neuen Haltung zu suchen. Das gilt auch für die christlichen Kirchen. Protestanten, Orthodoxe und Katholiken: Sie brauchen eine gemeinsame Stimme in den Überlebensfragen. Aufgabe des Glaubens ist nicht betuliche Selbstgenügsamkeit, sondern beinharte Weltverantwortung. Wir brauchen Worte der Klarheit und Worte des Friedens. Klar muss sein, was Menschen, was Nationen dürfen und was nicht.
Klar muss sein, dass Konfessionen und Religionen nicht weltlichen Herren und Damen, sondern glaubwürdig einem Gott dienen, der das Leben geschaffen hat. Und wer nicht an Gott glaubt, der wird bestimmt verstehen, dass es ein Sieg des Lebens ist, wenn Unterschiedlichkeit und Vielfalt möglich ist und gefeiert wird. Wir müssen weiter daran arbeiten, dass wir unter Weinstöcken und Feigenbäumen wohnen können – miteinander, wenn es so sein soll. Oder wenigstens respektvoll nebeneinander.
Allein den Betenden kann‘s noch gelingen …. Ja, ich bin davon überzeugt, dass unsere Gebete mächtig sind. Sie dienen der Seelenhygiene, aber nicht allein. Sie helfen, Gefühle zu verstehen und das Chaos im Hirn zu sortieren. Das alles wäre schon sehr viel. Aber es ist eben nicht alles. Wer betet, sieht von sich selbst ab. Er oder sie richtet seine, ihre Gedanken an einem Ziel aus, pflegt die konstruktiven Seelenbilder und bedenkt wie der Prophet Micha weise seine Visionen. Was ist wirklich menschenfreundlich und wie realisierbar?
Üben ohne Stillstand. Üben wir uns ein im Kampf um den Frieden. Gehen wir auf Demonstrationen, spenden wir für die umfassenden Hilfsaktionen. Organisieren wir Notunterkünfte und ein neues Zuhause für Flüchtlinge. Helfen wir, wenn ukrainische Freunde und Freundinnen zu uns kommen. Nehmen wir sie in den Arm, singen wir ihre Lieder und kochen ihr Essen. Beten wir! Machen wir klar, liebe Schwestern und Brüder, dass wir ohne Stillstand passioniert auf der Seite der Menschen stehen.
Und der Friede des Herren, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.