Predigt zur Fastenaktion „Mal ehrlich!”

Predigt von Regionalbischöfin Susanne Breit-Keßler

Liebe Gemeinde!

„Ich esse eigentlich nicht viel“, sagt ein Kollege beiläufig, der mit seinem erheblichen Übergewicht kämpft. Und er macht seinen Teller randvoll. „Wo das alles herkommt“, er klopft vergnügt auf seinen Bauch, „keine Ahnung...“ Bitte? Ich bin ziemlich sprachlos. Es wäre einfach, ihm eine Antwort zu geben. Man braucht nur einen Blick auf seinen vollgeladenen Teller zu werfen. Kalorien ohne Ende. Und das müsste er, genau genommen, auch selbst wissen.

Die Freundin ist seit Monaten in einem Sanatorium. Sie ist schwere Alkoholikerin. Und sie würde sofort wieder das Trinken anfangen, wenn sie alleine unterwegs wäre. »Ihr glaubt, ich bin krank«, sagt sie. „Aber das stimmt überhaupt nicht.“ »Liebe«, versuche ich es mit der Wahrheit, »Du hast jahrelang viel zu viel Alkohol zu Dir genommen und Dich am Ende ins Koma getrunken, deswegen bist Du jetzt hier.« Sie schüttelt den Kopf. »Nein, ich habe nur mein Leben genossen.«

Warum belügen sich Menschen selbst? Weil die Wahrheit manchmal weh tut und einen zum Handeln zwingt. Der korpulente Kollege müsste sich eingestehen, dass er die aufgestaute Wut über den aggressiven Chef förmlich in sich hineinfrisst. Er wäre genötigt, zu überlegen, welche Möglichkeiten ihm offenstehen. Dem Chef die Meinung sagen? Neue Arbeit suchen? Sehr unbequem. Die Freundin bräuchte den Mut, ihre Einsamkeit genau anzuschauen und den Schmerz über die verlorene große Liebe.

Sie müsste sich damit konfrontieren, dass der geliebte Mann sie wegen einer anderen verlassen hat und nie mehr zurückkehrt. Das geht elend ans Selbstbewusstsein - und macht einem schlagend deutlich, dass man für den anderen nicht alles ist. Die Dissonanz zwischen den eigenen Wünschen, Sehnsüchten und Hoffnungen und der Realität ist oft groß. Dann belügen sich Menschen, damit sie dem, was sie schmerzt, ausweichen können.

König David, von dem wir eben gehört haben, hat eine steile Karriere hingelegt. Er hat es vom Jugendlichen, der mit Goliath einen sprichwörtlich stärkeren Gegner besiegt hat, zum erfolgreichen Politiker gebracht. Er ist daneben noch hochmusikalisch, gutaussehend und hat einen Schlag bei den Frauen. Gott hat ihm für die Zukunft viel verheißen. Und David will sich dessen auch würdig erweisen – er will ein weiser, gerechter Herrscher sein, der alles richtig macht.

Und dann sieht er Bathseba und folgt nur noch seinem Ego. Auf sein unglaubliches Unrecht ist er gar nicht ansprechbar. Er blendet es vollkommen aus – lässt im Dunkeln seiner Seele verschwinden, dass er ein Mörder und Ehebrecher ist. David steht nicht zu sich selbst, weil er nicht zugeben kann, dass er gefehlt hat. Er schaut nur darauf, dass er selber gut dasteht. Um groß rauszukommen, lügt er sogar sich selbst etwas vor. Das zeigt seine Angst und seine Schwäche.

Wenn wir nicht ehrlich mit uns sind, die Wahrheit vermeiden, dann ist das bequem. Ich? Ne. Ich bin so nicht, ich mach´ sowas nicht. Das sind alles Negationen. Man weist ab und zurück – und steht nicht zu sich. Zu dem, wie und was man ist. Man lebt in der Verneinung seiner selbst. Schrecklich. Wir befinden uns in einer Welt, in der die Lüge pathologisch gelebt wird. In sozialen Netzwerken tummeln sich mental asoziale Menschen, die andere vernichtend attackieren.

Was zählt, ist nur noch die eigene, empfundene Meinung, das eigene Bild von sich und anderen – unabhängig von jeder Realität. Ist doch wurscht, wie es wirklich ist – Hauptsache, mir passt es in den Kram und ich muss mich nicht mit der Wahrheit auseinandersetzen. Der ganze Wahnsinn zeigt sich in dem Begriff „Alternative Fakten“.

Das wäre tatsächlich der Niedergang einer Kultur. Denn wir haben selbst darauf zu achten, ob wir mit unserer Auffassung richtig liegen oder uns vielleicht auch irren.

Manchmal braucht man einen anderen Menschen, der einem auf die Sprünge hilft. Bei König David war das der Prophet Nathan, der ihm eine Beispielgeschichte erzählt und ihm am Ende die Augen geöffnet hat. Du bist der Mann! Schau dich selbst an. Hör auf, dir etwas vorzumachen. Manchmal muss so ein Nathan kommen und einem die Wahrheit ins Gesicht sagen. Unser Nathan kann ein anderer Mensch sein. Wir haben diesen Nathan aber auch in uns selbst. Der rumort in uns, klopft an unser Gewissen und lässt einen ehrlich werden… Mein Nathan, mein innerer Prophet spricht. Nathan heißt „Gott hat gegeben“. Ich schau mich an. Das bin ich. So bin ich. Nathan schenkt mir Einsicht in mich selbst. Und das tut gut, auch wenn es anfangs schmerzt. König David hat - noch ahnungslos - seine Folgerungen gezogen. Wir haben die Chance, ganz bewusst unseren Nathangefühlen und -gedanken nachzuspüren. Uns zu erkennen und mit Gottes Hilfe ein wahrhaftiges, ehrliches Leben zu führen. Ehrlich – das ist mehr und noch etwas anderes als authentisch. Authentisch, das ist ein Modewort. „Stimmig“ auch. Menschen sollen so sein.

Stimmig und authentisch. Mit sich identisch, ganz sie selbst. Das findet man toll. Echt sein ist das höchste der Gefühle. Manchmal kriege ich einen Koller bei dem Gedanken, dass jeder und jede in einem falsch verstandenen Sinn authentisch sein könnte. Um Himmels willen! Wer nur den Hauch einer Ahnung davon hat, wer er oder sie selber wirklich ist und wie dementsprechend andere sein mögen, der kann sich nicht wünschen, dass diese Art von Authentizität oberste Priorität hat.

Das würde nämlich bedeuten, dass Männer und Frauen sich immer so zeigen und verhalten, wie sie sich im Innersten befinden. Eben nicht nur nett, freundlich, charmant, intelligent und hilfsbereit. Sondern gelegentlich auch ausgesprochen ekelhaft, gemein, grausam und vollkommen gleichgültig – so, wie David. Nein, so authentisch sein tut nicht gut. Ich kenne mich selbst gut genug, um dem Rest der Menschheit mich nicht ständig in ganzer Fülle zumuten zu wollen.

Ich möchte auch nicht, dass andere mir gegenüber das tun. Sie dürfen wie ich manches gerne für sich behalten.

Ehrlich, aufrichtig, wahrhaftig leben - das ist heilsam und befreiend. Das bedeutet, sich nicht selbst und die eigene Befindlichkeit, das eigene So-Sein zum Zentrum des Handelns zu machen. Sondern sich zu orientieren an dem, was die Bibel sagt. Gott liebt uns, wie wir sind, mit all unseren glanzvollen Seiten und den unerfreulichen Abgründen.

Er liebt uns, wie wir sind, aber eben nicht bleiben müssen oder sollen. In einem wunderschönen Psalm heißt es: „Herr, du erforschest mich und kennest mich. Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von Ferne. … Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten“ (Ps 139, 1f.;9f.) Wir können vielleicht uns selbst was vormachen – Gott aber nicht.

Der Gedanke kann einen erstmal erschrecken, dass da einer ist, der eh alles von uns weiß. Aber dann merkt man, wie schön das ist – denn er führt und hält uns ja. Obwohl er alles von uns weiß! Wahrhaftig, ehrlich leben - das ist die Chance, der Mensch zu werden, als den uns Gott gedacht hat. Ein Christenleben geht nicht auf in einer überzeugenden Selbstinszenierung. Die Herausforderung, der Anspruch besteht darin, redlich zu sein, auch mit uns selbst.

Man möchte gerne großartig sein, ja. Auf Dauer wird aber damit niemand glücklich, wenn er oder sie sich selbst in die Tasche lügt. Besser ist es, sich die Wahrheit einzugestehen und ganz bei sich selbst zu bleiben. David schafft das erst, als ihm der Prophet eine Geschichte erzählt, in der der König sich selbst aus der Distanz wahrnehmen kann. Er sieht sich gewissermaßen im Spiegel. Also: Einen Schritt zurücktreten, vielleicht mit Hilfe eines anderen Menschen.

Henry Fielding, ein berühmter Schriftsteller des 18. Jahrhunderts sagte: „Bei der Wahrheitssuche wie bei der Goldsuche arbeitet man nach derselben Methode. Das heißt, man gräbt und wühlt und rührt im Schmutz“ (H. Fielding, Tom Jones). König David muss in die Abgründe der eigenen Person hinab tauchen, sich anschauen, wie er war und ist. Das, was er anderen angetan hat. Um eine Frau zu gewinnen hat er ihren Mann in den Tod geschickt.

Und die Zwangs-Geliebte, hat er den eigenen Wünschen unterworfen, ihre Selbstbestimmung komplett missachtet. Der Prophet Nathan macht deutlich: Dein Lebenskonzept ist eine einzige Lüge. Und das wird Dich kaputtmachen. Du wirst krank werden und daran sterben, wenn Du Deine Wahrheit und Dein Leben verleugnest. David muss, will er wirklich leben, Abschied nehmen von seinem gigantischen Selbstbetrug, mit der auch andere hinters Licht geführt hat.

Das ist ein wichtiges Bild: Hinters Licht führen. Denn dort, hinterm Licht, sieht man nichts mehr. Nicht sich selbst, nicht den anderen. Es herrscht Finsternis statt Klarheit. Jesus, der sich selbst als Licht der Welt bezeichnet, hat es immer auch mit der Wahrheit. Da, wo man ehrlich mit sich und anderen umgeht, ist es hell. Ich sage es noch einmal: Das kann heftig sein, weil einem nichts mehr entgeht. Man sieht sich und andere, wie man selber ist und wie sie sind.

Es ist durchaus anstrengend, den Tatsachen ins Auge zu schauen. Gelegentlich braucht es Zeit, sich der Wahrheit zu stellen, sie zu erkennen, ihr die Herzenstür zu öffnen und sie in die eigene Lebensgeschichte zu integrieren. König David weiß in seinem Innersten, was richtig und was falsch ist. Das zeigt seine spontane Reaktion auf die Erzählung Nathans. Und wir? Wir wissen eigentlich auch, was uns, unserer Seele, unserem Kopf und Körper wirklich schadet oder gut tut.

Besser also, sich anschauen, spüren und überlegen: Wie geht es mir wirklich? Was ängstigt mich? Wo schäme ich mich auch? Wie wäre ich gerne und was kann ich selbst dazu tun, dass es mir besser geht? Treten wir in Gottes Namen in direkten Kontakt mit uns. Die kommenden sieben Wochen mit der Fastenaktion sind eine gute Gelegenheit dazu. Sieben Wochen ohne Lügen, denn es gibt nichts, was wir uns und Gott verheimlichen müssten. Und das ist die eigentliche Pointe eines ehrlichen Umgangs mit sich selbst. Gott kennt uns von Mutterleib an, von dem Augenblick an, in dem wir ein zärtlicher Gedanke von ihm wurden.

Weshalb sollten wir ihm etwas vormachen? Ich finde es großartig und eine wahre Entlastung, wenn ich weiß: So bin ich. Und so bin ich erst einmal geliebt von Gott. Das ist mein Startpunkt. Und von dem aus kann ich mit Gottes Hilfe meine Lebensgeschichte anschauen. Sehen, was gewesen ist. Schauen, was ich in Ordnung bringen und wo ich mich selbst noch zum Guten hin verändern kann. Mal ehrlich: Es ist wunderbar, zu leben, wenn man aufrecht in den Spiegel schauen kann. Danke, lieber Gott. Amen.