Predigt des Eröffnungsgottesdienstes der Fastenaktion 2024

Predigt von Ralf Meister des Eröffnungsgottesdienstes

„Komm rüber!“ Das ist nicht nur ein Satz, nach dem Einsame sich sehnen und von dem Überlastete genervt sind. Es ist nicht nur ein Satz, der Menschen in einer Straße zusammenbringt. … 
Mit „Komm rüber“ beginnt die Geschichte des Christentums in Europa. Sie fängt an mit einem Traum. 
Der Apostel Paulus ist in der Hafenstadt Troas in der heutigen Türkei. Im Traum sieht er einen Mann auf der gegenüberliegenden Küste. 

Komm! Sprich! Lauf! Mach! Bei Befehlen kommt es auf den Tonfall an. Immer wenn meine Mutter mich und meine Geschwister aus dem Garten ins Haus rief, schallte es: Kooomt! Das war der Ruf zum Abendbrot. Werbend, liebevoll, mütterlich. Kam keine Reaktion, und das war die Regel, hörte sich der zweite Ruf schon anders an, lauter vor allem: Koomt! Spätestens jetzt, das wussten wir, sollten wir uns auf den Weg machen und die selbstgebaute kleine Höhle im Kiefernhain oder das Versteck hinter der großen Birke verlassen. Blieben wir trotzdem noch, folgte der letzte Ruf: „Kommt! Kommt nun endlich!“ Kurz, knapp und scharf.

Unser ganzes Leben werden wir gerufen. Vom krabbelnden Kind auf dem Teppich bis zum alten Mann beim Umbetten im Pflegebett. Eltern, Geschwister, Freundinnen, Lebenspartner fordern uns auf - mal liebevoll und zärtlich, mal schroff und harsch. Wir rufen andere und andere rufen uns. 

In diesen Wochen und Monaten hören viele Menschen ein „Kommt!“. Hunderttausende fühlen sich derzeit auf die Straße gerufen. Am dritten Januarwochenende sollen es mehr als eine Million Menschen gewesen sein. Ein Ruf, dem viele Gehör schenken. „Komm!“ Es ist dringend! Unsere Demokratie, unsere Freiheit, unsere Mitmenschen brauchen dich.

Manchmal jedoch höre ich Rufe, die nie ausgesprochen wurden. Die Tochter braucht Hilfe beim Umzug, die Großtante ist krank. Und noch spannender sind die Rufe, von denen ich nicht einmal genau weiß, welche Stimme das ist: die unerfüllte Lebens-träume, die mir zuflüstern: „Komm, tu es, jetzt!“ Die Stimmen, die mich rufen, klingen immer anders. Ihr Tonfall ist verschieden. 

Manche mahnen, manche werben, manche drängen, richtig grob: Komm, es ist an der Zeit!

Woher all diese Rufe kommen und wie sie entstehen? Warum wir gerade auf den einen Ruf höre und auf den anderen nicht? Da werden Menschen verschiedene Antworten geben. Aber eines verbindet uns: Einem Ruf zu folgen ist sehr oft ein Zeichen von Vertrauen. Wir brechen auf und vertrauen darauf, dass es richtig und gut ist, diesen Schritt jetzt zu gehen. Komm rüber!

Doch „Komm rüber“ ist nicht immer ein Ruf, der ins Gute führt. Nicht jeder, der ruft, meint es gut. „Komm rüber!“ kann auch eine dunkle Seite haben. Vertrauen wird ge-brochen. Das gilt, so wissen wir, besonders für sexualisierte Gewalt in der Kirche. Es ist zutiefst beschämend, wie sehr Täter ihr Amt und das in sie gesetzte Vertrauen missbrauchten. Bewusst haben sie Grenzen von Kindern und Erwachsenen überschritten, sie gezwungen und ihnen Gewalt angetan. Und wir haben viel zu lange Augen und Ohren verschlossen. Wir haben die Rufe der Betroffenen nicht gehört. Wir müssen viel, viel aufmerksamer werden, wo Vertrauen missbraucht und Versprechen gebrochen werden. 

So gilt es, die Stimmen zu prüfen, die uns rufen. Wer ruft mich? Wem kann ich ver-trauen? 

Als Paulus die Stimme aus Mazedonien hörte, wusste er: Gott ruft mich. Gottes Ruf ist nicht doppeldeutig. Gottes Ruf ist klar. Und dieser Ruf zieht Paulus in die weite Welt. 

Die Geschichte, die mit Jesus in der Landschaft Galiläa mit ihren Dörfern be-gann, geht nun mit Paulus den Weg durch die großen Städte: Thessaloniki, Korinth, Rom. Seine Botschaft: „Kommt! Lebt in der Nachfolge Jesu.“ 

Bei Paulus brannte das Herz für diesen Weg. Dafür reiste er kreuz und quer durch die Länder am Mittelmeer. Er wurde gerufen und er rief andere. 

Mich erinnert das an eine Frage, die mir ein Professor vor vielen Jahrzehnten einmal gestellt hat: „Welche Leidenschaft haben sie?“ Ich war völlig verunsichert. Mir fiel nicht recht was ein. Der Lehrer hatte gerade eine Kunstaustellung mit seinen Bildern eröffnet, Bücher geschrieben, er kannte Gott und die Welt. Und ich? Student der Theologie. Ich zögerte. „Für irgendetwas müssen sie doch brennen!“ setzte er nach. Ich habe diese Frage nie vergessen. Wofür brennst Du? Wofür setzt Du dich in Be-wegung? 

Zu Gottes „Komm rüber!“ gehört unsere Bewegung. Es gehört das „Geh hin!“ dazu. Geh, wohin du dich gerufen fühlst. 

Es ist ein Nach-Hause-kommen. Und es ist die Gewissheit, da ist es gut.So wie damals, als die Mutter uns Kinder rief und wir uns auf den Weg durch den Garten machten, die Auffahrt entlang, an der Hecke vorbei und zum Haus. Wenige Minuten später saßen wir dann, mit gewaschenen Händen, alle auf der Küchenbank am Abendbrottisch. Es war alles bereitet. Der Tisch gedeckt, das Brot geteilt, die Gläser gefüllt. Kommt! 

Amen