Fastenmail 2: Loslegen, Fahrt aufnehmen, hinfallen ...

Ein Gerechter fällt siebenmal und steht wieder auf, aber die Frevler versinken im Unglück.
(Sprüche 24,16 in der Übersetzung der Lutherbibel von 2017. Hören Sie hier eine längere Passage, vorgelesen von Helge Heynold.)

Loslegen

Liebe Übegemeinschaft,

kennen Sie dieses Gefühl? Man liest einen Text und meint: „Der wurde genau für mich geschrieben, der passt so gut in meine Situation!“ Solche Momente sind immer wieder beeindruckend, selbst wenn wir wissen, dass wir gar nicht gemeint sein können, weil die Person, die den Text verfasst hat, uns gar nicht kennt. Trotzdem fühlen wir uns manchmal besonders direkt angesprochen von einem Text. Das Phänomen dahinter erklärt sich leicht. Wenn uns etwas sehr bewegt, schauen wir die gesamte Welt aus diesem Blickwinkel an. Wer gerade besonders heftig verliebt ist, wird überall Zeichen der Liebe entdecken, sei es in der Natur oder in Texten, die man liest. Es ist die sprichwörtliche „rosa Brille“, durch die man alles wahrnimmt, ein Filter, der alles in einer bestimmten Farbe darstellt, was man sieht.

Wer, wie wir gerade, tief erschüttert vom Krieg gegen die Ukraine ist, hat ebenfalls solch eine eingefärbte Wahrnehmung. Das ist mir beim Lesen des Bibeltextes aufgefallen, der von „7 Wochen Ohne“ für diese Woche ausgesucht wurde. Diesmal besteht der Text nur aus einem einzigen Vers, aber selbst in diesem Satz waren die Rollen in meinem Kopf bereits verteilt: „Gerechte“ und „Frevler“, keine Frage, wer da wer ist! Und es kommt noch besser. Der gesamte „Spruch“, um den es hier geht, lautet in der Übersetzung der Basisbibel so:

„Du sollst dich nicht wie ein Frevler verhalten und den Gerechten in seinem Haus überfallen. Zerstör auch nicht seinen Lagerplatz auf dem Feld! Denn siebenmal mag der Gerechte stürzen und steht doch immer wieder auf. Aber wenn Frevler über ihre Bosheit stolpern, ist es mit ihnen aus.“ (Spr 24,15−16)

Fahrt aufnehmen

Ich muss mich regelrecht zusammenreißen, um mir beim Lesen nicht russische Truppen vorzustellen, die ukrainische Siedlungen und Städte angreifen und zerstören. Ich lese weiter, und nun suche ich bereits nach den Parallelen und finde sie auch prompt:

„Wenn dein Feind stürzt, freu dich nicht darüber! Wenn er stolpert, brich nicht in Jubel aus! Der HERR könnte es sehen und dein Verhalten missbilligen. Dann könnte er von seinem Zorn ablassen, mit dem er gegen deinen Feind vorgeht.“ (Spr 24,17−18)

Das erscheint mir eindeutig eine biblische Warnung zu sein, dass ich mich nicht darüber freuen soll, wenn Putin einmal die Konsequenzen für sein Handeln zu spüren bekommen sollte. Und weiter geht es:

„Reg dich nicht auf, wenn es bösen Menschen gut geht! Sei nicht eifersüchtig auf die Frevler! Denn böse Menschen werden keine Zukunft haben, die Lampe der Frevler verlöscht.“ (Spr 24,19−20)

„Ja!“, durchfährt es mich, „Putins Herrschaft hat keine Zukunft!“

Hinfallen

Ich merke, dass ich gestürzt bin: So sollten wir die Bibel nicht lesen. Wer die Rollen für „Frevler“ und „Gerechte“ so eindeutig verteilt, verengt den Bibeltext und macht ihn zum Instrument für die eigene Meinung. Wer immer den Text schrieb, kannte weder die Ukraine noch Vladimir Putin. Ich nehme also meine gelb-blaue Brille ab und versuche, genauer hinzuschauen. Ich will dem Text gerecht werden, der mehr zu sagen hat, als ich durch meine gefärbte Brille sehen kann.

Aufstehen

Ich beginne mich zu fragen: Was sind eigentlich „Frevler“? Was meint die Bibel, wenn sie von ihnen schreibt? Was sind „Gerechte“? Die Basisbibel, deren Übersetzung ich hier zitiert habe, erklärt das folgendermaßen:

Frevler: Menschen, die Gottes Gebote missachten und ihre eigenen Interessen gewaltsam durchsetzen.
Gerechte: Menschen, die Gottes Gebote befolgen, sodass das Leben in Gemeinschaft miteinander gelingt.
(Worterklärungen der Basisbibel)

Es geht also auch um die große Spanne zwischen dem eigenen Interesse und dem Gemeinschaftswohl. Es geht um Gottes Gebote und darum, dass Menschen so egoistisch sind, dass sie vor nichts zurückzuschrecken, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Auf einmal ist da im Text viel mehr Platz als für Putin allein. Nun kann ich mich tatsächlich selbst „angesprochen“ fühlen von dem Bibeltext. Wo stehe ich denn auf der Skala zwischen Frevler und Gerechter? Gebe ich meinen Interessen den Vorrang, oder habe ich das Wohl vieler im Blick? Wie steht es um meine Rücksicht auf andere, wenn meine eigenen Interessen bedroht sind? Wie sehr sind mir Gottes Gebote eine tatsächliche Richtschnur?

Loslegen

Meine Wochenaufgabe für Sie lautet: Merken Sie, wenn Sie stolpern und hinfallen! Nehmen Sie es wahr, wenn Sie sich verrennen! Bedrohliche Zeiten lassen uns die Welt viel zu einseitig wahrnehmen. Es ist nicht schlimm, einmal alles aus der Sicht der Menschen in der Ukraine zu sehen. Genauso, wie es völlig in Ordnung ist, ab und an eine rosa Brille zu tragen. Aber nur, wenn man sich der Brille noch bewusst ist, kann man sie abnehmen. Es ist nicht schlimm, sich zu verrennen oder ins Stolpern zu kommen und hinzufallen. Man muss es nur wahrnehmen! Die „Gerechten“ merken es, stehen wieder auf und orientieren sich neu. Die „Frevler“ bleiben unbeirrt und versinken im Unglück.

Ich wünsche Ihnen eine gute Woche und lade Sie herzlich ein, diesen Bibeltext noch einmal sehr gründlich wahrzunehmen. Am Freitag, dem 11. März, findet wieder ein großer Online-Bibliolog statt. Informationen und Anmeldung finden Sie unter diesem Link.

Bleiben Sie behütet!

Ihr Frank Muchlinsky