Woche 6: Durch die Nacht

Woche 6: Durch die Nacht

Frederike Wetzels

Woche 6: Durch die Nacht

Von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde. Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut: Eli, Eli, lama asabtani? Das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Matthäus 27,45–46

Liebe Nacht- und Zitronenfalter und alle andere auch,

ich hoffe, meine Aufgabe aus der letzten Woche, etwas Unvernünftiges zu tun, hat Sie nicht in Schwierigkeiten gebracht. Ihre Rückmeldungen klangen teilweise so angeregt, dass ich mich schmunzelnd gefragt habe, was ich da angerichtet habe. Ich hoffe, was immer Sie getan haben, hat Ihren Tag hell gemacht.

Im Bibeltext für diese Woche geht das Licht aus. Wir schauen bereits in dieser Woche einmal auf Karfreitag. Jesus hängt am Kreuz. Während sein Lebenslicht langsam verlischt, wird es auch im ganzen Land finster. Drei Stunden lang muss Jesus nicht nur die Schmerzen erleiden, die ihn langsam umbringen. Er hängt mitten am Tag in Finsternis. Anstatt dass Gott es ihm leicht macht, sein Angesicht über Jesus leuchten lässt oder wenigstens die Sonnenstrahlen sanft macht bis zum Schluss, macht Gott es finster. Als ob Gott selbst nicht hinschauen könnte, als ob sich Gott abwendet von dem fürchterlichen Schauspiel. Und schließlich schreit der gefolterte Mensch laut auf und ruft Gott entgegen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

In dem Moment, als Gott sich ganz offensichtlich nicht mehr kümmert, als Gott irgendwo zu sein scheint, aber ganz bestimmt nicht da, wo er gerade gebraucht wird, schreit Jesus ihn an. Die Worte, die er spricht, stammen aus Psalm 22. Jesus nutzt die ersten Worte eines Klagepsalms, um Gott seine Verzweiflung zu zeigen. Auch die weiteren Verse des Psalms sind passend für diese furchtbare Situation, doch um mehr als die ersten Worte zu schreien, wird Jesus keine Kraft gehabt haben. Aber ich will hier schreiben, was noch mitschwingt in diesem Schmerzensschrei zu Gott:

Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht,
und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe.
Aber du bist heilig, der du thronst
über den Lobgesängen Israels.
Unsere Väter hofften auf dich;
und da sie hofften, halfst du ihnen heraus.
Zu dir schrien sie und wurden errettet,
sie hofften auf dich und wurden nicht zuschanden.
Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch,
ein Spott der Leute und verachtet vom Volk.
Alle, die mich sehen, verspotten mich,
sperren das Maul auf und schütteln den Kopf:
„Er klage es dem HERRN, der helfe ihm heraus
und rette ihn, hat er Gefallen an ihm
.“
Psalm 22,3–9 (Hier zu hören, vorgelesen von Helge Heynold)

In diesem Psalm steckt eine Theologie, die einzigartig für das Judentum und das Christentum ist: Es steckt darin die gesamte Geschichte Gottes mit den Seinen. Gott hat einen Bund mit uns geschlossen. Dieser Bund enthält Regeln. Auf der einen Seite Regeln für die Menschen, die gipfeln in dem Doppelgebot der Liebe: Du sollst Gott lieben und ehren und deinen Nächsten wie dich selbst. Daran sollen wir uns halten, dann erfüllen wir unseren Teil des Bundes. Aber auch Gott geht diesen Bund ein und verspricht Hilfe, Beistand, Nähe. Und jeder gläubige Mensch, ob jüdisch oder christlich, darf Gott an diesen Teil des Bundes erinnern. Eben, wie es im Psalm 22 heißt, wie es die Vorfahren taten: Sie schrien zu Gott und wurden gerettet.

Es ist diese beidseitige Verpflichtung von Gott und Mensch, die ich an unserem Glauben über die Maßen schätze. Gott verlangt nicht einfach von uns, dass wir uns ständig in Lobpreis und Ehrerbietung an ihn wenden. Unser Gott verspricht uns, sich um uns zu kümmern, und wenn das offensichtlich nicht geschieht, dürfen wir aus der Not zu ihm schreien. Dabei müssen wir nicht auf unsere Wortwahl achten, vielmehr dürfen wir laut und aufdringlich werden. Unser Gott nimmt es uns nicht übel, wenn wir ihn anschreien.

Der Grund, warum es keine gute Antwort gibt auf die Frage: „Warum lässt Gott das zu?“ ist, dass die Frage falsch gestellt wurde. Sie müsste lauten: „Gott, warum lässt du das zu?“ Eine Antwort darauf kann es nur im Gebet geben. Alle andere ist Spekulation. Darum möchte ich Ihnen folgende Wochenaufgabe stellen: Wenn es dunkel wird um Sie herum oder in Ihrem Herzen, sagen Sie Gott Bescheid! Fragen Sie Gott: „Wo bleibst du?“ Sagen Sie ruhig laut: „Warum bist du nicht da?“ Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass Sie gleich eine Antwort bekommen. Auch in Psalm 22 heißt es: „Des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht, und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe.“ Aber Sie dürfen sich Gehör verschaffen.

Und eine letzte Beobachtung zu unserem Wochentext möchte ich noch mit Ihnen teilen: Die Dunkelheit über dem sterbenden Jesus dauert von der sechsten bis zur neunten Stunde. Zur neunten Stunde schreit Jesus. Auch wenn es nicht ausdrücklich erwähnt wird, heißt das doch: Nach dem Schrei wird es wieder hell. Das ändert nichts daran, dass Jesus stirbt, aber eben nicht im Dunkeln.

Ich wünsche Ihnen eine gute Woche!

Ihr Frank Muchlinsky